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T 379/10 - Scope of appeal after successful petition for review


Back before the Boards of Appeal after a successful petition for review (case R 16/13), the question arises what the subject and scope of the appeal should be: can new facts, evidences and arguments / lines of reasoning be introduced by one or all parties, or is the appeal limited to overcoming the substantial procedural violation that was the petition for review? The Board concluded the latter.
Sachverhalt und Anträge
I. Das Europäische Patent Nr. 1 487 832 betrifft ein kristallines Mikronisat von Tiotropiumbromid.
II. Die Beschwerde der Patentinhaberin richtet sich gegen die Entscheidung der Einspruchsabteilung, das Patent zu widerrufen.
III. Am Ende der mündlichen Verhandlung vom 5. März 2013 entschied die Kammer in der gegenwärtigen Besetzung, die angefochtene Entscheidung der Einspruchsabteilung aufzuheben und die Angelegenheit an die erste Instanz mit der Anordnung zurückzuverweisen, das Patent mit den Ansprüchen des Hilfsantrags 2 und einer noch anzupassenden Beschreibung aufrechtzuerhalten.
IV. Die Beschwerdeführerin und Patentinhaberin beantragte die Überprüfung der Entscheidung vom 5. März 2013 gemäß Artikel 112a EPÜ durch die Große Beschwerdekammer. Mit der am 26. Mai 2015 zur Post gegebenen Entscheidung vom 8. Dezember 2014 (Rechtssache R 16/13) hob die Große Beschwerdekammer die Entscheidung der Kammer vom 5. März 2013 auf und ordnete die Wiederaufnahme des Verfahrens vor der Beschwerdekammer 3.3.01 an. Den Antrag, die Mitglieder der Beschwerdekammer zu ersetzen, welche an der aufgehobenen Entscheidung mitgewirkt hatten, wies die Große Beschwerdekammer zurück.
V. Entsprechend nahm die Kammer das Beschwerdeverfahren in unveränderter Besetzung wieder auf. Mit dem Formbrief vom 5. Juni 2015 lud sie die Parteien zur für den 23. September 2015 terminierten mündlichen Verhandlung. In dem der Ladung beigefügten Bescheid fasste sie die Entscheidung R 16/13 zusammen und lud die Parteien ein, zu den gemäß dieser Entscheidung im wiederaufgenommenen Verfahren zu behandelnden Punkten Stellung zu nehmen. Für den Fall, dass die Beschwerdeführerin und Patentinhaberin geänderte Anspruchssätze einreichen wolle, setzte ihr die Kammer eine Frist von zwei Monaten nach Zustellung der Ladung.
[...]
X. Die Beschwerdeführerin und Patentinhaberin reichte einen Antrag auf Überprüfung dieser Entscheidung nach Artikel 112a EPÜ ein und machte geltend, die Beschwerdekammer habe ihr in schwerwiegender Weise das rechtliche Gehör versagt (Artikel 112a (2) c) und 113 (1) EPÜ), indem sie die Schutzfähigkeit des Haupt- und ersten Hilfsantrags wegen fehlender erfinderischer Tätigkeit verneint habe, ohne dass die dafür maßgeblichen Gründe im Verfahren benannt und erörtert worden wären.
Dies gelte namentlich für die nicht diskutierte Auffassung der Kammer, die im Dokument (11A) gezeigten Versuchsdaten stützten die erfinderische Tätigkeit nicht. Wegen des unterbliebenen Hinweises der Kammer auf die Gründe, aus denen sie die erfinderische Tätigkeit des Hauptantrags nicht aus Dokument (11A) ableite, habe sie als Patentinhaberin keine Gelegenheit gehabt, eventuelle Missverständnisse auszuräumen und den Bedenken der Kammer Rechnung tragende Hilfsanträge einzureichen.
XI. Die Große Beschwerdekammer konstatierte in ihrer Entscheidung, der maßgebliche Grund der zu überprüfenden Entscheidung, das Dokument (11A) gäbe die Parameterwerte des mit dem Stand der Technik verglichenen Produkts unvollständig wieder, so dass die dort dokumentierten Vergleichsversuche zur Stützung der geltend gemachten verbesserten Stabilität und zur Bejahung einer erfinderischen Tätigkeit nicht ausreichten, sei in dem gesamten, der Entscheidung vorausgegangenen Verfahren nicht angesprochen worden. Dieser Grund sei weder von den Parteien vorgetragen worden, noch habe ihn die Kammer von sich aus zur Sprache gebracht, noch sei er in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer erörtert worden (siehe R 16/13, Punkt 2.2 der Entscheidungsgründe).
Daraus schloss die Große Beschwerdekammer, dass die Patentinhaberin nicht die Möglichkeit gehabt habe, die Auffassung der Kammer, im Dokument (11A) seien die Parameter des mit dem Stand der Technik verglichenen, erfindungsgemäßen Mikronisats nicht vollständig angegeben bzw. die drei letzten in Anspruch 1 aufgelisteten Parameter fehlten vollständig, zu erkennen und sich dazu zu äußern (siehe R 16/13, Punkt 5.4 der Entscheidungsgründe). Somit habe die Kammer der Patentinhaberin mit Folgen für den Ausgang des Verfahrens und damit in schwerwiegender Weise das rechtliche Gehör abgeschnitten (Artikel 112a (2) c) und 113 (1) EPÜ). Denn das Patent sei durch diesen Verfahrensfehler bedingt nur eingeschränkt aufrechterhalten worden (siehe R 16/13, Punkt 6 der Entscheidungsgründe).
XII. Der vorliegenden Entscheidung liegen die folgenden Ansprüche zu Grunde:
- die Ansprüche 1-25 des Hauptantrags, eingereicht mit Schreiben vom 10. August 2015,
sowie die Ansprüche der Hilfsanträge, die auch der aufgehobenen Entscheidung der Beschwerdekammer zu Grunde lagen, nämlich
- die Ansprüche 1-25 des Hilfsantrags 1, eingereicht während der mündlichen Verhandlung vom 5. März 2013,
- die Ansprüche 1-6 des Hilfsantrags 2, eingereicht während der mündlichen Verhandlung vom 5. März 2013,
- die Ansprüche 1-16 des Hilfsantrags 3, eingereicht als Hilfsantrag 2 mit Schreiben vom 22. Juni 2012,
- die Ansprüche 1-16 des Hilfsantrags 4, eingereicht als Hilfsantrag 3 mit Schreiben vom 22. Juni 2012,
- die Ansprüche 1-25 des Hilfsanträge 5, eingereicht als Hilfsantrag 4 mit Schreiben vom 4. Dezember 2012, und
- die Ansprüche 1-23 des Hilfsanträge 6, eingereicht als Hilfsantrag 5 mit Schreiben vom 4. Dezember 2012.
[...] 
XV. Die Beschwerdeführerin beantragte die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und die Aufrechterhaltung des Patents auf der Grundlage des mit Schreiben vom 10. August 2015 eingereichten Hauptantrags, hilfsweise die Aufrechterhaltung des Patents auf der Grundlage eines der Hilfsanträge 1 und 2, eingereicht während der mündlichen Verhandlung vom 5. März 2013, oder auf der Grundlage eines der Hilfsanträge 3 und 4, eingereicht als Hilfsanträge 2 und 3 mit Schreiben vom 22. Juni 2012, oder auf der Grundlage eines der Hilfsanträge 5 und 6, eingereicht als Hilfsanträge 4 und 5 mit Schreiben vom 4. Dezember 2012.
Die Beschwerdegegnerin beantragte, die Beschwerde zurückzuweisen.
XVI. Im Rahmen der mündlichen Verhandlung vom 21. September 2015 verkündete der Vorsitzende die Entscheidung der Kammer.
Entscheidungsgründe
1. Die Beschwerde ist zulässig.
2. Umfang des wiederaufgenommenen Beschwerdeverfahrens
2.1 Vorliegend warf der Antrag der Beschwerdegegnerin, die von der Beschwerdeführerin mit Schreiben vom 10. August 2015 vorgelegten Vergleichsversuche im wiedereröffneten Verfahren nicht zu berücksichtigen (siehe unten unter Punkt 3), die Frage auf, was der Gegenstand des wiedereröffneten Verfahrens sei. Weder Artikel 112a (5) EPÜ, noch die parallele Regel 108 (3) EPÜ geben hierüber Aufschluss. Wie die Beschwerdegegnerin ausführte, ließen sich zwei gegensätzliche Positionen vertreten: Entweder ist infolge der Aufhebung der fehlerbehafteten Entscheidung das Beschwerdeverfahren insgesamt zu wiederholen. Dann sollte es beiden Parteien gleichermaßen möglich sein, ihren Sachvortrag durch neues Vorbringen zu ergänzen. Oder das wiederaufgenommene Beschwerdeverfahren ist darauf beschränkt, den festgestellten, schwerwiegenden Mangel auszuräumen. Das Beschwerdeverfahren müsste in diesem zweiten Fall in dem Umfang wiederholt werden, wie es vom Mangel kausal für die getroffene Entscheidung behaftet ist. Der Verfahrensgegenstand richtet sich mithin nach dem gerügten und festgestellten schwerwiegenden Mangel.
2.2 Die Entscheidung R 16/13 äußert sich nicht zu dieser Frage, sondern beschränkt sich auf eine Feststellung des schwerwiegenden Verfahrensmangels. In der Ladung zur mündlichen Verhandlung vom 21. September 2015 hat die Kammer indes auf die Entscheidung R 21/11 vom 5. Juni 2012, Punkt 30 der Entscheidungsgründe, hingewiesen. Dort heißt es wie folgt (Hervorhebung durch die Kammer):
"...Im Rahmen des Antrags auf Aufrechterhaltung des Streitpatents vor der Kammer ist einzig und allein darüber zu entscheiden, ob das zusätzliche Beweismittel einen Unterschied macht. Eine Ersetzung der früheren Mitglieder würde bedeuten, dass eine Beschwerdekammer in neuer Besetzung das gesamte Beschwerdeverfahren mit dem zugehörigen Kosten- und Zeitaufwand erneut durchführen müsste, um zu einer abschließenden Entscheidung zu gelangen, was unter den vorliegenden Umständen unnötig und unverhältnismäßig wäre. Während es Sache der Beschwerdekammer ist, zu bestimmen, wie sie mit dem wiedereröffneten Verfahren verfährt, scheint es keinen Grund zu geben, warum sie den Fall nicht zügig wird entscheiden können. Dies liegt im Interesse der Öffentlichkeit und der Parteien, im Falle der Antragstellerin nicht zuletzt aufgrund der Bestimmungen des Artikels 112a (6) EPÜ."
Die Großen Beschwerdekammer gab damit zu erkennen, dass die Wiedereröffnung des Beschwerdeverfahrens nicht erfordert, dass den Parteien erneut die Möglichkeit zur Äußerung zum gesamten Streitstoff gegeben wird, sondern darauf abzielt, den festgestellten schwerwiegenden Verfahrensmangel auszuräumen. Dies begründete die Große Beschwerdekammer mit dem Interesse der Allgemeinheit an einer zügigen Durchführung des wiedereröffneten Verfahrens zur Erlangung von Rechtssicherheit. Nur die Ersetzung eines oder mehrerer, an der aufgehobenen Entscheidung beteiligter Mitglieder der Kammer erfordert nach Auffassung der Großen Beschwerdekammer die erneute Durchführung des gesamten Beschwerdeverfahrens. Dementsprechend ist auch das vorliegende, wiederaufgenommene Beschwerdeverfahren auf die Behebung des in der Überprüfungsentscheidung festgestellten Mangels zu beschränken.
2.3 Vor diesem Hintergrund und mit Blick auf die Bedeutung für die Frage der Zulassung geänderten Vorbringens ist vorweg festzustellen, worin der schwerwiegende Verfahrensfehler besteht, der den Rahmen für das wiedereröffnete Verfahren vorgibt. Wie die Kammer bereits in ihrem Ladungsbescheid festgestellt hat, entschied die Große Beschwerdekammer, dass die Patentinhaberin nicht die Möglichkeit gehabt habe, die Auffassung der Kammer, in (11A) seien die Parameter des mit dem Stand der Technik verglichenen, erfindungsgemäßen Mikronisats nicht vollständig angegeben bzw. die drei letzten in Anspruch 1 aufgelisteten Parameter fehlten vollständig (siehe Punkt 4.5.1 der aufgehobenen Entscheidung vom 5. März 2013), zu erkennen und sich dazu zu äußern (R 16/13, Punkte 2.2, 5.3 und insbesondere 5.4 der Entscheidungsgründe). Die Große Beschwerdekammer folgte damit dem Vortrag der Beschwerdeführerin, die Kammer habe bei der Würdigung der Vergleichsversuche in (11A) außer Acht gelassen, dass die in (11A) untersuchten Proben 1-3 als Proben des erfindungsgemäßen Tiotropiumbromidmikronisats zu identifizieren gewesen seien, womit die anspruchsgemäßen Parameter implizit in (11A) offenbart gewesen seien. Die Kammer habe ihre Bedenken zu den fraglichen Parametern nicht geäußert und nicht zu erkennen gegeben, dass es ihr auf eine explizite Offenbarung dieser Werte ankomme. Deshalb habe die Beschwerdeführerin keine Gelegenheit erhalten, sich zu diesem Punkt zu äußern und die Bedenken der Kammer zu zerstreuen (siehe R 16/13, Punkt II.2.1 und II.2.3 des Sachverhalts sowie Punkte 2.2, 5.3 und 5.4 der Entscheidungsgründe).
2.4 Daher ist Gegenstand des wiederaufgenommenen Beschwerdeverfahrens,
- den Parteien Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben, ob die in (11A) untersuchten Proben 1-3 des erfindungsgemäßen Tiotropiumbromidmikronisats die anspruchsgemäßen Parameter aufweisen, und
- diese Stellungnahmen bei der Prüfung der erfinderischen Tätigkeit zu berücksichtigen.
3. Zulassung der von der Beschwerdeführerin mit Schreiben vom 10. August 2015 eingereichten Vergleichsversuche
3.1 Die Beschwerdeführerin erachtete die Einreichung dieser Vergleichsversuche als notwendigen Bestandteil der ihr gemäß Entscheidung R 16/13 zuzugestehenden Möglichkeit zur Stellungnahme (siehe oben unter Punkt 2.3). Sie verwies zudem auf die Entscheidung T 1110/03 (ABl. EPA 5/2005, 302), die in Punkt 2.4 der Entscheidungsgründe feststellt, dass "das Recht, - insbesondere durch die Vorlegung von Urkunden - geeignete Beweise zu erbringen (Artikel 117 (1) c) EPÜ)", wie das rechtliche Gehör, zu den grundlegenden verfahrensrechtlichen Ansprüchen zähle.
3.2 Die Kammer stimmt mit der Entscheidung T 1110/03 überein, dass das Recht auf Beweis als Korrelat zum Äußerungsrecht als grundlegendes Verfahrensrecht anerkannt ist. Allerdings stellt sich in Bezug auf die Zulassung der mit Schreiben vom 10. August 2015 eingereichten Vergleichsversuche der Beschwerdeführerin vorliegend die Frage, ob diese nur ihre Entgegnung zum Einwand der Kammer stützen, zu dem sich die Beschwerdeführerin gemäß der Entscheidung R 16/13 äußern können soll, oder ob sie darüber hinaus gehen und so den Gegenstand des wiedereröffneten Verfahrens, wie er durch den Antrag auf Überprüfung und die gestützt darauf ergangene Entscheidung R 16/13 vorgegeben ist, erweitert.
Die Beschwerdegegnerin hat in dieser Hinsicht zutreffend ausgeführt, dass sich die Beschwerdeführerin schon im Rahmen des Überprüfungsverfahrens zur Sache geäußert habe, nämlich dahingehend, dass die Proben 1-3 in (11A) als erfindungsgemäßes Mikronisat des Tiotropiumbromids identifiziert und die anspruchsgemäßen Parameter somit implizit offenbart gewesen seien. Weitere Daten neben denen der Dokumente (11A) und (21) seien nicht erforderlich.
Die mit Schreiben vom 10. August 2015 vorgelegten Daten beschränken sich in der Tat nicht darauf, mangels Verfügbarkeit der ursprünglichen Versuchsprotokolle zu (11A) den Sachverhalt, dass die Proben 1-3 in (11A) die anspruchsgemäßen Parameter aufweisen, mit neuen Daten zu stützen. Sie gehen vielmehr darüber hinaus, indem es nicht mehr bloß um die Charakterisierung des erfindungsgemäßen Tiotropiumbromid-Monohydrats hinsichtlich der anspruchsgemäßen Parameter geht, sondern um zusätzliche Vergleichsversuche zur Stützung eines technischen Effekts gegenüber dem nächstliegenden Stand der Technik. Die mit Schreiben vom 10. August 2015 vorgelegten Daten gehen daher entgegen der Beschwerdeführerin nicht ausschließlich auf die Sachfrage ein, zu der sich die Beschwerdeführerin gemäß Entscheidung R 16/13 äußern können muss; sie verlagern damit den Gegenstand des wiedereröffneten Verfahrens in tatsächlicher Hinsicht in einem sehr späten Verfahrensabschnitt.
3.3 Aus den obenstehenden Erwägungen ließ die Kammer die von der Beschwerdeführerin mit Schreiben vom 10. August 2015 eingereichten Vergleichsversuche nicht in das Verfahren zu.
4. Zulassung der neuen Argumentationslinie der Beschwerdegegnerin zum Hilfsantrag 2
Den gegen den Hilfsantrag 2 gerichteten Einwand, die Versuche (11A) könnten die erfinderische Tätigkeit der Verfahrensansprüche des Hilfsantrags 2 nicht stützen, da in (11A) keine Konditionierung des Mikronisats vorgenommen worden sei, trug die Beschwerdegegnerin erstmals während der mündlichen Verhandlung vom 21. September 2015 vor der Kammer vor.
Auch dieses Vorbringen geht über den Rahmen des wiederaufgenommenen Beschwerdeverfahrens hinaus, wie er oben unter den Punkten 2.3 und 2.4 definiert ist.
Ferner hätte die Zulassung dieses Vorbringens eine wesentliche Verzögerung des Verfahrens, wenn nicht gar eine Verlegung der mündlichen Verhandlung zur Folge gehabt. Deshalb war die Kammer auch gemäß Artikel 13 (1) bzw. (3) der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern (VOBK, siehe ABl. EPA 2007, 536) berechtigt, das Vorbringen nicht zuzulassen.
Dokument (11A) wurde bereits im Einspruchsverfahren als Anlage des Schreibens vom 2. November 2009 von der Patentinhaberin eingereicht. Der einzige unabhängige Anspruch des Hilfsantrags 2 ist identisch mit Anspruch 1 des mit der Beschwerdebegründung eingereichten Hilfsantrags. Die Beschwerdegegnerin hätte folglich diese Argumentationslinie wesentlich früher vorbringen können, beispielsweise in ihrer Antwort auf die Beschwerdebegründung.
Aus diesen Erwägungen ließ die Kammer die neue Argumentationslinie der Beschwerdegegnerin zum Hilfsantrag 2 nicht in das Verfahren zu.
5. Zulassung der Versuchsberichte (12), (21) und (26)
5.1 Versuchsbericht (12)
Im vorliegenden Fall wurde von der Einspruchsabteilung gemäß Artikel 114(2) EPÜ der Versuchsbericht (12) als verspätet vorgebrachtes Beweismittel bewertet und nicht in das Einspruchsverfahren zugelassen.
Gemäß Artikel 12(4) der VOBK hat die Kammer die Befugnis, Beweismittel nicht zuzulassen, die bereits im erstinstanzlichen Verfahren nicht zugelassen worden sind. Im Rahmen einer solchen Entscheidung sollte sich eine Beschwerdekammer nur dann über die Art und Weise, in der die erste Instanz ihr Ermessen ausgeübt hat, hinwegsetzen, wenn sie zu dem Schluss gelangt, dass die erste Instanz ihr Ermessen nach Maßgabe der falschen Kriterien, unter Nichtbeachtung der richtigen Kriterien oder in willkürlicher Weise ausgeübt hat (siehe T 640/91, ABl. EPA 1994, 918, Punkt 6.3 der Entscheidungsgründe).
In der angefochtenen Entscheidung der Einspruchsabteilung wurde hervorgehoben, dass kein triftiger Grund für das späte Einreichen vorlag, und dass die Patentinhaberin der Möglichkeit beraubt wurde, die Ergebnisse zu diskutieren oder zu überprüfen (vgl. Seite 3, Punkt 2). Laut Protokoll über die mündliche Verhandlung vor der Einspruchsabteilung hatte die Einsprechende auch Gelegenheit ihre Auffassung zu der Relevanz des Versuchsberichts vorzutragen (Seite 1, Absätze 5 und 6).
Somit hat die Einspruchsabteilung die Kriterien der Relevanz und der Zumutbarkeit für die andere Partei auf das verspätet eingereichte Dokument angewandt, wie sie die Prüfungsrichtlinien vorschlagen (siehe die Richtlinien für die Prüfung im Europäischen Patentamt, E-III 8.5 in der Fassung vom Dezember 2007).
Folglich hat die Einspruchsabteilung ihr Ermessen ausreichend begründet und die richtigen Kriterien angewandt.
Das weitere Argument der Beschwerdegegnerin, dass das Dokument (12) als eine angemessene Reaktion auf die Beschwerdebegründung angesehen werden soll, kann die Kammer nicht überzeugen. In der Beschwerdebegründung wurde bestritten, dass das Dokument (2) den nächstliegenden Stand der Technik darstelle. Die Kammer kann nicht erkennen, dass das Dokument (12) zur Klärung dieser Frage beiträgt. Das erneute Einführen von Dokument (12) kann daher nicht als angemessene Reaktion auf die Beschwerdebegründung betrachtet werden.
Folglich hat die Kammer entschieden, das Dokument (12) nicht in das Verfahren zuzulassen.
5.2 Versuchsbericht (21)
Die Beschwerdeführerin hat in dem Versuchsbericht (21) weitere Daten bereitgestellt, mit der Absicht, die bereits im Dokument (11A) gezogenen Schlussfolgerungen weiter zu untermauern. Dadurch ist keine wesentlich neue, für die Beschwerdegegnerin überraschende Sachlage entstanden. Es trifft auch nicht zu, dass im Dokument (21) die Angaben zu den Mikronisierungsbedingungen unvollständig sind (siehe Verweis in dem ersten Satz auf das Streitpatent; siehe auch die Absätze [0045] und [0046] des Streitpatents). Außerdem wurde das Dokument (21) bereits am 22 Juni 2012 eingereicht, d.h. bevor eine erste mündliche Verhandlung vor der Kammer anberaumt wurde und über acht Monate bevor sie stattfand. Die Beschwerdegegnerin hatte daher ausreichend Zeit, sich mit dem Bericht auseinander- zusetzen (vgl. auch das Gutachten (27), Absätze (11) bis (14), in dem zum Dokument (21) Stellung genommen wurde).
Unter diesen Umständen entschied die Kammer gemäß Artikel 13 VOBK, den Versuchsbericht (21) in das Verfahren zuzulassen.
5.3 Versuchsbericht (26)
Der Versuchsbericht (26) wurde von der Beschwerdeführerin am 4. Dezember 2012 eingereicht, d.h. nach Anberaumung der auf den 5. März 2013 angesetzten ersten mündlichen Verhandlung vor der Kammer. Die Beschwerdeführerin berief sich darauf, dass das Dokument (26) als Reaktion auf den Bescheid der Kammer vom 11. September 2012 zu sehen sei. Dazu ist festzustellen, dass in diesem Bescheid die Dokumente (24) und (25) lediglich als Bestätigung dafür zitiert worden sind, dass Mikronisate, wie sie im Dokument (11A) als Vergleichssubstanz gewählt wurden, zum vorliegenden Prioritätszeitpunkt bekannt waren. Daher konnte der Bescheid der Kammer kein Anlass zur späten Einreichung weiterer Versuche geben.
Darüber hinaus hätte die Zulassung dieser spät eingereichten neuen Beweismittel zur Folge gehabt, dass die Beschwerdegegnerin, besonders unter Berücksichtigung der arbeitsfreien Weihnachtszeit, nicht ausreichend Zeit gehabt hätte, beispielweise mit Gegenversuchen angemessen zu antworten. In diesem Kontext kann das Gutachten (27) (vgl. dessen Absatz (16)) nur als erster Versuch gewertet werden, auf das Dokument (26) zu reagieren.
Die Kammer machte daher von ihrem Ermessen gemäß Artikel 13 VOBK Gebrauch und lehnte die Zulassung des Dokuments (26) in das Verfahren ab.
6. Zulassung der Hilfsanträge 1 und 2
Die Hilfsanträge 1 und 2 wurden in der mündlichen Verhandlung vom 5. März 2013 vor der Kammer eingereicht. Allerdings waren sie als Reaktion auf die Entwicklung des Verfahrens zu werten. So wurde erstmals in der mündlichen Verhandlung die erfinderische Tätigkeit ausgehend von Dokument (25) als nächstliegendem Stand der Technik in Frage gestellt. Die neu eingereichten Hilfsanträge sind als ein Versuch der Beschwerdeführerin zu sehen, diesen Einwänden zu begegnen.
Bei der Änderung im Hilfsantrag 1 handelt es sich um eine einfache Einschränkung des Wassergehalts im Anspruch 1, wodurch keine wesentlich neue, für die Beschwerdegegnerin überraschende Sachlage entstanden ist. Im geänderten Hilfsantrag 2 sind im Vergleich zu dem mit der Beschwerdebegründung eingereichten Hilfsantrag lediglich Ansprüche gestrichen worden. Da das nun beanspruchte Verfahren im Einspruchs- und Beschwerdeverfahren hinsichtlich der erfinderischen Tätigkeit ausführlich diskutiert worden ist, wurden auch hier keine neuen Fragen aufgeworfen, deren Behandlung der Beschwerdegegnerin nicht zuzumuten wäre.
Aus diesen Gründen wurden die Hilfsanträge 1 und 2 gemäß Artikel 13 VOBK in das Verfahren zugelassen.
Anspruch 1 des Hauptantrags
[...]
Anspruch 1 des Hilfsantrags 1
[...]
Hilfsantrag 2
9. Änderungen (Artikel 123 EPÜ)
Die Zulässigkeit der Änderungen wurde von der Beschwerdegegnerin nicht bestritten. Da die Kammer diesbezüglich auch keinen Einwand erkennen kann, erübrigen sich weitere Ausführungen hierzu.
10. Erfinderische Tätigkeit
10.1 Der Hilfsantrag 2 unterscheidet sich vom Hauptantrag dadurch, dass er nur noch Verfahrensansprüche enthält (vgl. obiger Punkt XIIc)). Der Anspruch 1 betrifft ein Verfahren zur Herstellung eines kristallinen Mikronisats von Tiotropiumbromid, bei dem eine bestimmte Kristallmodifikation von Tiotropiumbromid-Monohydrat mikronisiert und anschließend Wasserdampf ausgesetzt wird (Konditionierungsschritt).
10.2 Aus den oben unter Punkt 7.2 abgehandelten Gründen ist auch hier Dokument (25) als nächstliegender Stand der Technik anzusehen.
10.3 Gemäß den Ausführungen der Beschwerdeführerin liegt diesem Antrag die Aufgabe zugrunde, ein Mikronisierungsverfahren bereitzustellen, das ein lagerstabileres Tiotropiumbromidmikronisat liefert.
10.4 Zur Lösung dieser Aufgabe wird das im Anspruch 1 beanspruchte Verfahren vorgeschlagen, welches durch die Wahl des kristallinen Tiotropiumbromid-Monohydrats als Ausgangsstoff und durch den Konditionierungsschritt gekennzeichnet ist.
10.5 Angesichts der in dem Dokument (11A) vorgelegten Vergleichsversuche, die bereits ausführlich oben in Punkt 7.5.1 abgehandelt worden sind, ist die Kammer überzeugt, dass die genannte Aufgabe durch das nun beanspruchte Verfahren tatsächlich gelöst wird.
Die Beschwerdegegnerin hat mit analogen Ausführungen wie für den Hauptantrag bestritten, dass das Dokument (11A) den behaupteten Vorteil glaubhaft machen würde. Dieses Argument kann allerdings nicht überzeugen. Im Verfahrensanspruch 1 wird eine bestimmte Kristall-modifikation von Tiotropiumbromid-Monohydrat als Ausgangsstoff definiert, die einer Mikronisierung und Konditionierung unter spezifischen Bedingungen ausgesetzt wird. Diese Merkmale wirken auch zwangsläufig einschränkend auf das resultierende Produkt. Deshalb können die Argumente, die für den Hauptantrag vorgebracht worden sind, nicht einfach analog gelten. Tatsächlich wird in den Versuchen gemäß Dokument (11A) die Lagerstabilität für das Produkt des vorliegenden Mikronisierungsverfahren gegenüber dem des bekannten Verfahren gemäß dem Dokument (25) unter feuchten Lagerungsbedingungen verglichen. Dabei wird erfindungsgemäß ein lagerstabileres Produkt erhalten. Somit hat die Kammer keinen Grund zu zweifeln, dass es sich hierbei um einen aussagekräftigen Vergleich handelt.
10.6 Es bleibt nun zu untersuchen, ob der Stand der Technik dem Fachmann Anregungen bot, die genannte Aufgabe durch die Bereitstellung des anspruchsgemäßen Verfahrens zu lösen.
In den von der Beschwerdegegnerin für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit angezogenen Dokumenten wird eine Kristallmodifikation des Tiotropiumbromid- Monohydrats gemäß dem vorliegenden Anspruch 1 nicht offenbart. Wie bereits oben in Punkt 7.2.2 ausgeführt, hätte der Fachmann aus Dokument (2) keine verwertbare Lehre bezüglich der Herstellung eines Mikronisats von Tiotropiumbromid-Monohydrat ziehen können. Vor allem findet sich keinerlei Hinweis im zitierten Stand der Technik, dass durch die Verwendung des erfindungs-gemäßen Monohydrats anstatt der im Dokument (24) beschriebenen wasserfreien Form ein vorteilhafteres Mikronisat erhalten werden könnte. Aus den Dokumenten (4) und (7) ist zu entnehmen, dass unter Umständen eine Stabilisierung eines Mikronisats durch einen Konditionierungsschritt zu erzielen ist. Diese Dokumente enthalten aber keine Anregung, nach weiteren Kristallmodifikationen und Solvaten des Tiotropium-bromids als Ausgangsstoff zu suchen in der Erwartung, stabilere Mikronisate daraus herstellen zu können.
Die Kammer kommt daher zu dem Ergebnis, dass der Gegenstand des Anspruchs 1 des Hilfsantrags 2 dem Fachmann durch den Stand der Technik nicht nahegelegt wird und damit auf einer erfinderischen Tätigkeit beruht.
Die abhängigen Ansprüche 2 bis 6 betreffen weitere Ausgestaltungen des Herstellungsverfahrens gemäß Anspruch 1 und werden von dessen Patentfähigkeit getragen.
11. Da der Hilfsantrag 2 die Erfordernisse des EPÜ erfüllt, kann diesem Antrag stattgegeben werden. Eine Entscheidung über die nachrangigen Hilfsanträge 3 bis 6 erübrigt sich somit.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
1. Die angefochtene Entscheidung wird aufgehoben.
2. Die Angelegenheit wird an die erste Instanz mit der Anordnung zurückverwiesen, das Patent mit folgenden Ansprüchen und einer noch anzupassenden Beschreibung aufrechtzuerhalten:
Ansprüche Nr. 1 bis 6 des Hilfsantrags 2 eingereicht während der mündlichen Verhandlung vom 5. März 2013.

This decision T 379/10 (pdf) has European Case Law Identifier:  ECLI:EP:BA:2015:T037910.20150921. The file wrapper can be found here. Picture taken from the submission by the proprietor of 5 March 2013 (auxiliary request 2, considered allowable).

Comments

  1. A quick statistic on the success rate of petition reviews reveals the following picture:
    107 petitions have been dealt with by the Board
    88 petitions have been rejected as manifestly not founded
    12 petitions have been rejected as manifestly not admissible
    9 petitions have been withdrawn
    4 petitions have been deemed not formed
    7 petitions have been accepted
    From those 7
    1 petition has lead to a different decision of the BA, R 15/11
    5 petitions have lead to the same decision of the BA, R 16/13, R 21/11, R 3/10, R 7/09.
    1 petition has been heard, but no decision has been announced at the end of the OP, R 19/12.
    ! petition has been heard and rejected at the end of the OP,no decision yet published.
    To summarise: success rate 1% (disregarding R 19/12).
    Any other comment?

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    Replies
    1. The chances of prevailing through a petition for review are slim indeed.

      Even if the quantitative impact on Board of Appeal decisions has been small though, it could be that there is a qualitative impact. For example, Boards may draft their considerations more comprehensively; knowing that if they appear to violate the right to be heard their decision may be overturned.

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